Hamburger Senatsbock – eine nagelneue Tradition

In Hamburg gibt es einen Fachbegriff, der einen Sachverhalt bezeichnet, der nur in dieser Stadt vorkommt und auf Außenstehende meist etwas skurril wirkt: „Hamburgensie“. Als solche gilt der Hamburger Senatsbock, bei dem es sich angeblich um eine Tradition aus dem 16. Jahrhundert handelt. Seitdem hätten sich, so wird erzählt, die Hamburger Brauereien jedes Jahr zur Produktion eines süffigen Doppelbocks verabredet und das erste Fass in‘s Rathaus gerollt, um es den Senatoren zu übereignen – daher der Name.

Die Fünfte Jahreszeit auf hanseatisch

Die Tonspur plärrt, die Schwarzweiß-Bilder zittern, die Stimme des Reporters klingt ehrfürchtig. Ein jovialer Mann in Lederschürze, von der blechernen Kommentatorenstimme als „Polizeipräsident“ tituliert, schlägt unter dem Applaus der ebenso gut gelaunten wie gutgekleideten Menge den Zapfhahn in das Senatsbockfass. Im Saal schunkelt die feine Hamburger Gesellschaft – fast ausschließlich Männer – angetan in feinem Zwirn und natürlich mit obligatem Zylinder. Der erste Schluck wird in einen glänzenden, „vierhundert Jahre“ alten Pokal abgefüllt. Auf der Bühne des Curiohauses in der prächtigen Rothenbaumchausse, einer der besten Hamburger Adressen, drängen sich Uniformierte: Polizei? Feuerwehr? Stadtwache? Kaum zu sagen, die schief sitzenden falschen Bärte und die knitterigen Zweispitze sehen jedenfalls eher nach Karneval aus. Kaiserliche Einreiher stehen stramm neben Uniformröcken des 18. Jahrhunderts, dazwischen ein Herr mit mittelalterlicher Kappe, der einen Eimer an einer Stange hält. So würdevoll es eben geht, setzt der Wirtschaftssenator den Pokal an und verkündet schließlich: „Zum menschlichen Genuss geeignet!“

Sieht man diese Aufnahmen des Senatbockanstichs, im würdigen Curiohaus für die Abendnachrichten abgefilmt, mag man dem Eindruck gewinnen, es handele sich um eine Hamburger Tradition aus uralter Zeit – aber dem ist nicht so. Mit dem Brimborium, das in den 50er und 60er Jahren um das gemeinschaftliche Verkosten süffigen Doppelbocks gemacht wurde, hat sich Hamburg dereinst offensichtlich von üblicherweise etwas südlicher angesiedelten Karnevalstraditionen inspirieren lassen.

Ein kooperatives Experiment

Fest steht, dass die Bierherstellung in Hamburg Tradition hat (andererseits: wo nicht?) und im großen Stil bereits im 12. Jahrhundert betrieben wurde. Da die Bierherstellung ein Handwerk ist, dass neben dem nötigen Equipment auch unterschiedlicher und mehr oder weniger leicht erhältlicher Ressourcen bedarf, also mindestens Hopfen, Malz und Wasser, kann es sehr wohl sein, dass sich Brauer in Hamburg über die Jahrhunderte hinweg schonmal gegenseitig unter die Arme griffen. Aber ein gemeinschaftliches Brauen von fünf Hamburger Brauereien nach Einigung auf ein Rezept und das großangelegte Anzapfen im Rahmen einer Festivität, das war eine Erfindung der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Gut, es kam dabei ein „vierhundert Jahre“ alter Pokal zum Einsatz, aber wo der nun die letzten dreihundertneunundneunzig Jahre davor genau herumgestanden hat, das musste ja nicht unbedingt thematisiert werden. Hauptsache, alle waren sich einig, dass man hier eine formidable Gelegenheit für eine großartige Feier am Schopfe packte. Hinzu eine Prise angeblicher Tradition und ganz viel Gelegenheit „unter sich“ zu sein und schon ist sie geboren: die Hamburgensie. Beteiligt waren die Bavaria-Sankt Pauli (Astra), Bill-Brauerei (Bill-Bräu), Elbschloss (Ratsherrn) und die Winterhuder Brauerei. In der großen Fusionswelle der 60er und 70er Jahre verschwanden einige der Beteiligten. Das Braugeschäft wurde hektischer und aggressiver – irgendwann schlief dann auch der Senatsbock ein.

Aus noch-nicht-ganz-so-alt mach neu

Im Zuge des Craftbeer-Booms wurde der Hamburger Senatsbock 2013 wiederbelebt. Fünf Hamburger Brauereien taten sich zusammen, einigten sich, tüftelten, brauten und präsentierten 2015 den ersten Senatsbock seit vielen Jahren, Die Brauhäuser der ersten Stunde waren Block Bräu, Gröninger, Kehrwieder, Ratsherrn und das Brauhaus Joh. Albrecht. Im Jahr 2018 erhöhte sich die Anzahl der beteiligten Brauereien auf acht, als Wildwuchs, Landgang und Überquell hinzukamen. Schließlich ergänzte die Astra-Mikrobrauerei als neuntes Mitglied die illustre Truppe. Mit den „Umzug“ des Senatsbockanstichs in den Keller des Ratshauses knüpfte der Senatsbock schließlich wieder da an, wo er in den 60ern aufgehört hatte: in der feinen Gesellschaft. Folgerichtig schwang 2020 auch wieder ein echter Hamburger Wirtschaftssenator den Hammer. Seither heißt es Ende Januar in Hamburg wieder „Die Krüge hoch, die Kehlen weit. Es ist wieder Senatsbockzeit!“

Quellen

Zeitgenössischer Filmbericht, Senatsbockanstich, 50er Jahre; https://www.youtube.com/watch?v=qtukjwFDOn0&ab_channel=HamburgerSenatsbock

Geschichtlicher Überblick, Hamburger Senatsbock: https://www.senatsbock.de/idee-geschichte.html

Senatsbockanstich 2023 mit historischem Rückblick: https://www.hamburg.de/bars-kneipen-hamburg/4437680/senatsbock/

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